Poststadl, Haar
Baujahr Bauherr
Weiterbildungseinrichtung, Volkshochschule und Musikschule, Bürgerstiftung, Sanierung und Erweiterung Familienzentrum
2012 – 2014
Gemeinde Haar
Die Volkshochschulen feierten am 20. September 2019 deutschlandweit ihr 100-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass ist die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Dr. Franziska Giffey, nach Haar in den Poststadel gekommen, um über die Rolle der Volkshochschulen für lebenslanges Lernen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu diskutieren.
Wir Architekten sind stolz darauf, dass dieses Haus als Veranstaltungsort für die bundesweite 100-Jahr-Feier der VHS ausgewählt wurde. Der Vortrag der Ministerin, in der sie das Haus, seine gestalterische Konzeption und die Kooperation mit der Musikschule Haar ausdrücklich hervorhob, sowie die anschließende Diskussionsrunde wurden aufgezeichnet und sind via Livestream über die Volkshochschulen abrufbar.
Herausforderung Poststadl Städtebauliche Gesamtkomposition Innenhöfe / Freiräume Innenraumgestaltung Nachhaltigkeit Photovoltaikanlage
Der alte Poststadl in Haar ging in seiner Grundsubstanz auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Es handelte sich um ein ehemals landwirtschaftlich genutztes 2-geschoßiges Gebäude mit Satteldach ohne Unterkellerung. Städtebaulich und typologisch war das Gebäude gleichwohl für den alten Ortskern von Haar und das bauliche Umfeld von prägender Bedeutung. So bildete das lange flach lagernde Gebäude als städtebaulich wirksame Flanke den Abschluss des westlichen Bürgerhausvorplatzes und markiert wirksam den Zugang zur Fußgängerbrücke über die Münchner Straße.
Konstruktiv bestand das Gebäude aus einer Mischkonstruktion Ziegelmauerwerk aus Vollziegeln geschlämmt, das Obergeschoß als offener Holzdachstuhl. Das Erdgeschoss (EG) wurde offensichtlich für Stallungen, Geräte und Fahrzeuge genutzt, das Obergeschoß als Heubergeraum. Es war in der überlieferten Form für einen dauerhaften Arbeits- oder Wohnraum ungeeignet. Wegen zahlreicher Umbauten und Substanz-veränderungen wurde das Gebäude nicht in die Denkmalliste aufgenommen.
Seit Anfang der 90er Jahre gab es bereits Überlegungen den weit-gehend freistehenden „Poststadl“ zu sanieren und intensiver zu nutzen. Bis dahin waren im EG sehr improvisiert Räumlichkeiten der VHS mit Werkstattcharakter untergebracht. Die Silberschmiede und die Töpferwerkstatt mit Brennofen. Die Heizung erfolgt über Elektroeinzelöfen. Darüber hinaus waren im EG in erster Linie Lagerräume für das Bürgerhaus, den Biergarten und die Hausmeisterei untergebracht. Das Obergeschoß und der Dachraum waren frei und ungenutzt.
Wir als Architekten sahen den Wert des Poststadls neben seiner überlieferten, geschichtlichen Materialität, besonders als städtebaulich unverzichtbares, anschauliches Beispiel einer typologisch prägenden Gestaltung des alten Ortskerns.
Der Planungsprozess unsererseits war bestimmt von der Vorstellung, trotz des gewaltig angewachsenen Raumprogramms, die Typologie des Stadels mit seiner Volumetrie, seiner charakteristischen Gestaltelemente und seiner Anschaulichkeit durch eine kreative Rekonstruktion wieder aufleben zu lassen.
In ausführlichen Studien haben wir die gestaltprägenden Elemente des alten Poststadls sorgfältig analysiert. Dazu gehörten neben der Volumetrie die besondere Dachform, die Proportion der Fenster und Toröffnungen und die Anschaulichkeit der Materialien, insbesondere der Sichtmauerwerksfassade. Die Reminiszenz an die Geschichte setzte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ort und der Gestalt des Gebäudes voraus. Wir ließen den historischen Poststadl in einer modernen, technisch zeitgemäßen Rekonstruktion wieder entstehen.
Neben den Überlegungen zum Poststadl galt es eine Antwort auf die besondere Lage in Haar zu finden, unmittelbar am Übergang des alten Ortskerns zur Münchener Straße, an der Grenze zur maßstäblich völlig anderen Bebauung aus den 1970er Jahren (Jagdfeld).
Deshalb reagiert die Bebauung mit seiner Höhenentwicklung auf die Münchener Straße mit einer Straßenrandbebauung von 3-4 Geschoßen, auf die Fußgängerbrücke im Westen mit einem zweigeschoßigen Bauteil und auf die Dragonivilla mit einem erdgeschoßigen Verbindungsbau.
Das Ergebnis ist eine differenzierte Gesamtkomposition aus unterschiedlichen Bauteilen, die durch gleiche Materialität und Detailgestaltung zusammengehalten wird und straßenabgewandt, ruhige Hofräume anbietet.
Durch die differenzierte Gesamtkonzeption entstehen, jeweils den Nutzungen zugeordnet, attraktive Freiräume. Volkshochschule und Musikschule umschließen einen gepflasterten Innenhof mit Bauminseln, der sowohl für die öffentliche Durchwegung von der Münchener Straße in den alten Ortskern, als auch für Veranstaltungen im Freien konzipiert ist.
Neben dem vielfältigen Angebot für die Musikschule und die VHS im Inneren des neuen Gebäudekomplexes werden so auch die Außenräume – speziell der bespielbare Innenhof – das vorbildliche, öffentliche Freiraumangebot im alten Ortskern noch erweitern. So kann man später von der Münchner Straße bis zum Bahnhofplatz durch eine Abfolge von öffentlichen Platz- und Grünräumen wandern, vorbei an den vielfältigen, angrenzenden öffentlichen Einrichtungen.
Das neue Haus ist als offenes Haus der Begegnung und des kulturellen und sozialen Austausches konzipiert. Die Nutzungsvielfalt von Volkshochschule und Musikschule wird – so hoffen wir – viele Haarer Bürger ansprechen. Ein großzügiges Raumangebot (teilweise in Wechselnutzung) steht zur Verfügung.
In EG und 1. OG werden die zum Hof, offenen Foyer- und Ausstellungsräume zu attraktiven Begegnungsräumen. Die Musikübungsräume im 1. OG des Poststadls sind bis zum Dach offen und bringen einen besonders akustischen Wert mit wegen des großen Raumvolumens mit. Im EG lassen sich die Werkstatträume der VHS zum Innenhof und zum Vorplatz öffnen und erweitern.
An zahlreichen Stellen weiten sich die Flure bis zur Fassade und es werden auf diese Weise Warte-, und Begegnungszonen angeboten, bei denen sich Lehrer und Schüler, Besucher und Interessierte treffen und aufgrund des Blickbezugs zum Innenhof im Gebäude orientieren können.
Gesellschaftlicher Mittelpunkt des Hauses ist der große Saal im 1. OG werden, der sich ideal für musikalische Darbietungen eignet, aber gleichermaßen auch für Vorträge und Seminare der VHS genutzt werden kann.
Die Innenraumgestaltung wird geprägt von hochwertiger Gestaltung und Materialien aus Naturholz und Stein. Treppenhäuser, Foyers und Flure sind großzügig hell und besonnt. Es sind nur wenige nach dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ausgewählte Materialien. Durch den konsequenten Einsatz weniger aber hochwertiger Materialien und Elemente, entsteht eine wohltuend ruhige und angenehme Raumatmosphäre.
Ein durchgehendes Möblierungs- und Farbkonzept verbindet die unterschiedlichen Nutzungen und ermöglicht jederzeit einen Austausch oder eine flexible Nutzung des Mobiliars.
Die beiden taghellen Treppenhäuser erhalten durch die besondere Farbgestaltung und die Lichtreflexionen aus den Gitterstrukturen an der Außenfassade eine verspielte und abwechslungsreiche Lichtinszenierung.
Bei allen Planungsüberlegungen wurde auch das energetische Konzept und der Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit besonders beachtet. So sind die Außenwände durch die hinterlüftete Vormauerziegelschale energetisch hocheffizient und gleichzeitig nahezu wartungsfrei, auch über lange Zeiträume. Der Fensteranteil beträgt ca. 1/3 der Fassade. Die Holzaluminiumfenster sind 3-fach verglast. Neben der natürlichen Fensterlüftung für jeden Raum sind für den großen Saal eine Lüftungsanlage und für Seminar- und Übungsräume aus Gründen des Schallschutzes dezentrale Fassadenlüfter eingebaut worden.
Das ganze Haus ist barrierefrei geplant. Für die Raumakustik wurden besondere Holzlamellenwandverkleidungen integriert.
Auf dem Satteldach Nord, südlicher Teil, wurde eine Photovoltaikanlage errichtet. Durch ihren Einsatz wird ein hoher Anteil an elektrischer Grundlast des Gebäudes abgedeckt. Eventuell erzeugter Überschuss wird über eine gesonderte Zählung in das öffentliche Netz eingespeist. Längerfristig reduzieren sich hierdurch die Bezugskosten von öffentlich bereitgestellter elektrischer Energie.
Projektleitung Hochbau Kurt Mattei, Dipl.-Ing. (Univ.) Architekt und Stadtplaner
Projektleitung Freiflächen Svea Erdmann, Landschaftsarchitektin
für Baustatik, München